Der gestrige Samstag war für uns eine nervenaufreibende Zitterpartie. Aber eins nach dem Anderen...
Tony Schmidtke und Jonas Zschätzsch nahmen am gestrigen Samstag am 5. Lok-Cup teil, der in der Sportschule Rabenberg ausgetragen wurde. Ein großer Wettkampf, der nicht mit den regionalen Wettkämpfen zu vergleichen ist, die wir sonst in der Mehrzahl bestreiten. Jonas startete in einer s.g. 'offenen Klasse' und erkämpfte sich mit guten Übungen verdient den ersten Platz. Ich bin sehr stolz auf Jonas und die Freude war (und ist) sehr groß.
Tony hingegen startete in einer Klasse, in der man sich auch zu den Deutschen Meisterschaften qualifizieren kann, die am 3. Oktober in Cottbus stattfinden werden. In dieser Klasse starten Spitzenturner aus ganz Deutschland, wie beispielsweise Manuel Rösler, der 2014 den 4. Platz bei den World Age Group Competitions in Florida erreichte. Diese Spitzensportler besuchen i.d.R. alle samt eine Sportschule und trainieren zwischen 20-30 Wochenstunden. Tony ist davon weit entfernt. Aber schon die Tatsache, die erforderlichen Teilnahmevoraussetzungen zu erfüllen und in dieser Klasse starten zu dürfen, ist schon anerkennenswert.
Aber... Tony ist talentiert und wurde seinem Spitznamen 'Teufelskerl' im besonderen Maße gerecht.
Jeder Wettkampf beginnt mit einem Einturnen, zu dem sich alle Sportler erwärmen und Ihre Übungen vorbereiten. Als wir auf der Startliste dann Tonys Konkurrenten lasen, reduzierten sich unsere Erwartungen von Namen zu Namen. Ich versuchte, Tony noch einmal zu Puschen und wir trainierten eine Kombination aus seiner Kürübung, bestehend aus zwei Doppelsaltis hintereinander (Fliffis - Doppel). Nach einigen guten versuchen prellte sich Tony dann aber beim Landen des Doppelsaltos leider das linke Knie und musste wegen Schmerzen das Einturnen abbrechen. Unsere Erwartungen sanken noch einmal weiter.
Dann war es soweit. Die Schmerzen waren besser, sodass Tony turnen konnte. Ich weiß nicht, was in ihm vorging. Aber Tony zeigte eine grandiose Pflichtübung, wie ich sie selten von ihm gesehen habe. Die Kampfrichter belohnten diese entsprechend. Im zweiten Durchlauf folgte dann seine besagte Kürübung. Sie war nicht schlecht, aber gemessen an den Übungen der Spitzensportler konnte man nur sagen 'ganz O.K.'.
Als ich mich vom Gerät wieder entfernte, sprach mich eine Trainerkollegin an und fragte mich "Und? Hat Tony die Quali geschafft?" Diesen Fakt hatte ich aufgrund der wirklich geringen Erfolgsaussichten total ignoriert. Tony war bei allen anderen Qualifizierungswettkämpfen von den erforderlichen Punkten weit entfernt. Ich sagte also "Keine Ahnung. Wie viele Punkte braucht er denn?". Diese Punkte werden vom DTB jedes Jahr neu festgelegt und steigen stetig an. Die Kollegin schaute in Ihren Unterlagen und da standen 75,00 Punkte für seine Altersklasse. Ich blickte auf die Anzeigetafel mit Tonys so eben erturnten Punkten und mich traf fast der Schlag. Tony hatte 75,72 Punkte. Total verstört wollte ich die Nachricht seiner Mutter Simone, die zeitweise auch Trainerin ist, sowie Jonas und den Familien überbringen. Simone sah es mir schon auf dem Hinweg an und nach einem kaum wahrnehmbaren Nicken meinerseits, löste sich bei Ihr ein kurzer aber lauter Freudenschrei.
Dieses schöne Gefühl hielt ca. zwei Minuten an, bis mich ein weiterer Trainerkollege informierte, dass die Punktetabelle der Kollegin veraltet sei. Tony braucht nicht 75,00 Punkte, sondern 77,00 Punkte. Entsprechend stürzten die Emotionen in die Gegenrichtung. Resigniert waren wir nach unserem Höhenflug ganz schnell wieder gelandet.
Dennoch. Tony qualifizierte sich für das Finale und konnte somit noch einmal eine Übung turnen. Wir rechneten schnell aus, wie viele Punkte er sich noch verbessern müsste und welche Wertung er im Schnitt von den Kampfrichtern bräuchte. Hoffnung keimte auf. Während der Wunsch nach der Qualifikation für die DM die Emotionen wieder nach oben peitschte, bremste der Realismus diese aber sofort wieder ein. Ein wahres Wechselbad der Gefühle.
Nun galt es, strategisch vor zu gehen. Erst einmal Durchatmen. Meine Aufgabe war es nun, Tony zu noch nie da gewesenen Höchstleistungen zu motivieren, ohne gleichzeitig einen riesengroßen Druck aufzubauen. Tony turnt seit seinem 5. Lebensjahr bei mir, also schon seit 8 Jahren. Ich kenne ihn also ziemlich gut und weiß, wie viel 'Druck' der heute 13-Jährige vertragen kann. Gerade wenn man so unter Druck steht, verturnt man auch ganz schnell. Aber wir wussten, wenn wir die erforderlichen Punkte holen wollten, musste Tony ein hohes Risiko eingehen. Er müsste höher Anspringen und für die Absprünge zwischen den 10 Übungsteilen kräftemäßig an seine Leistungsgrenze gehen. Die Chance, dabei zu verturnen oder eine schlechtere Haltung zu haben, die zu mehr Punktabzügen führt, ist hierbei stets sehr sehr groß. Hingegen wenn er 'sicher' turnt, d.h. nur 99% Gas gibt, ist die Qualifikation nicht zu schaffen.
Ich ging zu Tony, setzte mich zu ihm, und informierte ihn knallhart über die Lage. Ich sagte "Tony, es gibt eine ganz kleine Chance, die Punkte zu erreichen. Aber da müssen wir mehr, als nur turnen. Du müsstest turnen, wie du noch nieeee geturnt hast. Du müsstest auf eine Höhe Anspringen, die noch nie erreicht hast. Und Du müsstest die Absprünge zwischen den Elementen so derbe nach oben schieben, wie Du noch nieee geschoben hast. Du müsstest jedes Element extrem aggressiv turnen. Du müsstest die Öffnungen strecken als würde Dich ein Blitz treffen und die Endphasen seeeehr lange nachdrücken." Tony schaute mich starr an und ich wusste, ich habe ihn 'eingenordet'. Er hat mich verstanden und ihm war klar, es reicht nicht aus, es einfach nur 'zu versuchen'. Er musste ein kleines Wunder vollbringen.
Um den dabei parallel entstanden Druck wieder etwas zu nehmen, nahm ich ihn noch einmal mit auf eine Gedankenreise und sagte: "Stell Dir vor Du machst im Training ein Battle, mit Jonas z.B. Die Haltung ist mir dabei total egal. Du versuchst einfach nur so hoch wie irgend möglich zu springen [Pause] ...und turnst dann auf einmal die Elemente aus Deiner Kür." Nach einem kurzen Moment der Starre schaute mich Tony an ...und schmunzelte etwas. Ich wusste, dass meine Botschaft angekommen war und ich ihm die richtige innere Haltung vermittelt hatte. Er musste turnen wie noch nie. Der eigentliche Wettkampf und die Schmerzen im Knie waren ausgeblendet. Es zählte nur noch diese letzte Kürübung. Diese letzte Chance zu der soooo lange erträumten Qualifikation zu den Deutschen Meisterschaften. Tonys gesamten Trainingsmühen - und er ist wirklich ehrgeizig und kommt mitunter viermal die Woche zum Training - sowie alle seine und unsere Erwartungen ballten sich in dieser letzten Kürübung.
Dann war es soweit. Tony war dran. Der Wettkampfleiter kam ans Gerät und sagte routiniert seinen Standardsatz wie zu jedem Sportler "Tony, bitteschön!". Ich kann nicht sagen, was in Tony vorging. Er sprang wirklich hoch an. Ich stand an der Schiebematte und zählte: "Und... Eins... Zwei...". Nun war es passiert. Tony war in seiner Übung und ich konnte nur noch zusehen. Tony kämpfte jeden Sprung. Ich sah eine Übung, die man als eine der besten bezeichnen kann, die Tony je geturnt hat. Und ich erinnerte mich wieder daran, weshalb er damals den Spitznamen 'Teufelskerl' erhielt. Er hat dem Druck stand gehalten, alles ausgepackt, was irgendwo da war und die Kampfrichter belohnten seine Übung mit mehr Punkten, als wir benötigt hätten. Die Quali war mit 78,21 Punkten geschafft!
Tony belegte übrigens schlussendlich Platz drei und konnte sogar noch einen Pokal mit nach Hause nehmen. Ein echter Teufelskerl.